…unter besonderer Berücksichtung der Ereignisse vor 2005 Jahren


WendeltreppeGestern hatten Freunde zu einer Ausstellungs-Finissage eingeladen. Sie wollten die Gelegenheit nutzen, auf das ablaufende Jahr zurück zu blicken, aber eben auch einmal über die Ereignisse vor 2005 Jahren nachdenken. Streng genommen ließen sie nachdenken 😉

Hier meine Rede von gestern:
30. Dezember 2005 minus 2005 Jahre – da sind wir im Jahr Null.

Jahr Null?

Das gibt’s nicht! Sagt die unerschöpfliche Quelle des Gemeinwissens, die Wikipedia. Denn selbstverständlich habe ich- als moderner Mann ist man ja dem Fortschritt verpflichtet – dort zuerst nachgesehen.

Das kann ja heiter werden!

Also: Vor 2005 Jahren war nicht 2005 minus 2005 gleich Null, sondern – hm, was denn?

Christi Geburt!

Gute Idee, wir besinnen uns also auf die Wurzeln. Die Westler unter uns Ostlern haben das sprachlich ja nie sein gelassen, sie reden von „vor Christi Geburt“ und „nach Christi Geburt“, was sich mit „v.Chr.“ und „n.Chr.“ zumindest geschmackvoller abkürzt als das hier zu Lande etwa 50 Jahre lang übliche „v.u.Z.“ und „n.u.Z.“

Fuzz und Nutz, das klingt doch unschön. Könnte man glatt auf üble Gedanken kommen. Aber ich schweife ab. Wo war ich stehen geblieben? Richtig, bei der Geburt des Herrn. Mal sehen, was die Wikipedia mir da bieten kann…

Oh. Shit.

Sorry, ich wollte nicht wirklich fluchen. Aber dieser Jesus von Nazareth, ein Mann der Zeitenwende, beliebte rund sieben Jahre vor seiner Geburt auf die Welt zu kommen.

Donnerwetter, das ist ja man ein Ding! Ohne jetzt erneut abschweifen zu wollen – aber das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Sieben Jahre vor Christi Geburt wird Jesus Christus geboren.

Okay, zurück zum Thema. Also heute vor 2005 Jahren gab es im Nahen Osten einen Jungen, der gerade so um die sieben Jahre alt war. Die ersten sieben Jahre, wenn wir diese siebenjährige Frühgeburt einmal als gegeben hinnehmen, zählte er rückwarts, also
minus sieben
minus sechs
minus fünf
minus vier
minus drei
minus zwei
minus eins
– und dann nix null, nee nee. Dann eins, zwei, drei und so weiter.

Warum stellen die sich eigentlich mit der Null so an?

Der Herr Professor sagt: Die Null musste erst erfunden werden, und dann lupft er die Augenbrauen und senkt die Stimme als ob es feierlich würde. „Das ist eine gaaanz große Erfindung!“ Ja, wenn das so ist, dann suchen wir doch mal den Erfinder.
Das ist, wenn man der Beschriftung im Louvre zu Paris Glauben schenken kann, ein uns hier namentlich nicht bekannter Mensch aus dem Zweistromland. Um seine Null, die eher wie ein Apostroph aussah, so richtig würdigen zu können, braucht es ein wenig Mathematikgeschichte. Im zweiten Jahrtausend vor Christi Geburt kannte man an den Ufern Babylons – jetzt bitte nicht den einschlägigen Hit von Boney M mitsummen, der 1978 17 Wochen (24. April  bis 7. August und 21. August) in Deutschland die Nummer eins war, das würde uns nur ablenken, ja! –
also: Im zweiten Jahrtausend vor Christi Geburt kannte man an den Ufern Babylons noch nicht die Achse des Bösen, aber dafür schon Zahlen, die wie bei uns heute je nach Platzierung einen anderen Stellenwert hatten. Also wenn wir zum Beispiel 123 schreiben, dann ist doch jeder klar, dass die 1 ein Hunderter, die 2 ein Zehner und die 3 ein Einer ist, mithin hundert plus zwanzig plus drei gleich hundertdreiundzwanzig.

Die Römer haben das, wissen wir alle von den fetten Bauwerken, anders gemacht: Drei Drei Drei, bei Issos Keilerei – kennen Sie. Da haben die Römer ziemlichen Aufwand betreiben müssen, um das zu notieren: CCC für die Dreihundert, XXX für die Dreißig und III für die Drei. CCCXXXIII – kein Wunder, dass das Römische Reich irgendwann nicht mehr konnte, die kamen ja zu nichts! Was ist denn das für eine miserable Produktivität, wenn man so viel aufschreiben muss. Und flotte Merksprüche gehen mit CCCXXXIII auch nicht so locker von der Hand – aber ich schweife ab.

Die Babylonier also hatten so ein Stellenzahlensystem, und sie hatten, was auch irgendwie heutig klingt, auch nur ein binäres System, wenn auch anders als das der Computer heute. Computer kennen, das wissen Sie, nur die Null und die Eins, aber bevor ich wieder abschweife und die Null beim Computer unter besonderer Berücksichtigung der Stellung neben der Eins würdige, besinne ich mich auf die Babylonier. Die hatten einen Nagel und einen Winkel statt einer Null und einer Eins. Der Nagel, aufrecht, war so was wie ein Einser, der Winkel stand für das, was wir heute zehn nennen. Munter winkelten und nagelten die Babylonier im Sechziger-System: Fünf Winkel und neun Nägel waren 59, dann wurde es unübersichtlich und ein einziger Nagel, ein wenig nach links gerutscht, symbolisierte die 60. Klingt kompliziert, ist es auch – aber wir machen das ja auch heute noch. Zumindest richtig alte Uhren zeigen 59 Sekunden und rücken dann eine Minute vor, und neunundfünfzig Minuten später rückt dann die Stunde vor, die – Achtung, Falle! – dann aber nur bis zwölf kommt, das allerdings zwei Mal. Also unkompliziert ist das auch nicht!

Aber ich schweife ab, eigentlich wollte ich doch den namenlosen Erfinder der Null lobpreisen. In Babylon machte es also einen Unterschied, wo der Nagel hing. Das führte im täglichen Wirtschaftsleben aber immer wieder zu Schwierigkeiten, wenn nämlich nicht klar war wie links so ein Nagel positioniert war. Oder wie rechts, was aufs Gleiche hinauslief: Ärger mit der Buchhaltung. Ein Astronom bereitete dem Ärger ein Ende, und hier zitiere ich einmal:
„Auf einer astronomischen Tafel aus Uruk stehen dort, wo zwischen dem 2 mal 3600 der 3. Ordnung und dem 15 der 1. Ordnung eine 2. Ordnung fehlt, als Platzhalter zwei schräg hochgestellte kleine Nägel, ähnlich einem Apostroph. Damit war eindeutig klar, dass 7215 (2 mal 3600 plus 15) und nicht etwa 135 (2 mal 60 plus 15) gemeint war – Babylon hatte die „Null“ erfunden. Die Tafel mit der Urnull gehört heute zur Sammlung des Louvre in Paris.“ (Zitat Herbert Cerutti, Die schwere Geburt der Null)

Urnull. Klingt gut – aber ist schon so was wie eine leichte journalistische Übertreibung. Nicht, dass nur Journalisten übertreiben, auch Wissenschaftler können erheblich schwindeln, wie man uns derzeit im Fernen Osten lehrt, aber ich schweife ab. Also so wirklich war die Null nämlich immer noch nicht erfunden. Nur der Platzhalterteil („Die noch nicht so genannte Null unter besonderer Berücksichtigung des Stellenwerts von Zahlen im babylonischen Sytem“ könnte die dazu passende Doktorarbeit heißen) war da, aber so simple Probleme wie „Ich habe zehn Baguettes und gebe dir zehn, dann habe ich …“ ließen sich nicht etwa durch „10 minus 10 gleich 0“ lösen. Man musste sich behelfen, etwa durch „Sandwich ist aus!“ Von fundamental weiter reichenden Problemen wie „Über welches Jahr müssen wir reden, wenn wir heute im Jahr 2005 leben und über die Ereignisse vor 2005 Jahren laut nachdenken müssen“ ganz zu schweigen.

Also, die Null ist immer noch nicht erfunden. Irgendwer muss es aber doch gewesen sein! Und, war’s ein Deutscher? Vielleicht der Adam, der im Westen Riese und im Osten Ries genannt wird (ich schweife nicht ab, wenn ich erwähne, dass die hiesige Benamsung die korrekte ist!), also war’s Adam Ries? Mitnichten!

Es war ein Inder! Kann hier jemand indisch? Nein? Dann sprechen Sie mir nach:
dvi sunya eka tri
(alle: dvi sunya eka tri)

Sehr gut. Sie haben soeben eine Sternstunde der Mathematik, ach was: der Menschheit zum Erklingen gebracht! Denn „dvi sunya eka tri“ bedeutet soviel wie zwei Einer, kein Zehner, ein Hunderter und drei Tausender, also 3102. Sunya, die Null. Ist eine Sonja unter uns? Ich wollte nur sagen, dass es da keine sprachwissenschaftlichen Zusammenhänge zwischen sunya und Sonja gibt. Ansonsten möchte ich nicht abschweifen und den Erfinder der Null mit freundlichen Worten loben, rühmen und preisen: Ein toller Hecht, der Typ. Ein Inder, damals schon spitze, so wie heute auch. Sie wissen doch, dass wichtige Computerviren und etliche Callcenter in Indien ihren Ursprung haben? Nein? Na, ich will nicht abschweifen, aber da könnte man wahnsinnig interessante direkte Verbindungslinien von der heutigen geistigen Vorherrschaft zur damaligen Erfindung ziehen. Ein anderes Mal, vielleicht. Ich sollte statt dessen vielleicht erwähnen, dass diese Nullerfindung erst im 5. Jahrhundert unserer Zeit erfolgte. Also noch gar nicht so lang her ist.

Aber Indien ist weit weg. Und Europa, im christlichen Glauben konservativ verwurzelt, schalt die östlichen Gedanken Teufelszeug. Also, damals, vor mehr als tausend Jahren. Erst eine frühzeitliche Pisa-Studie, die der Sohn eines Orient-Händlers mit dem schönen Vornamen Leonardo verfasste, brachte Bewegung in die Zahlen. Leonardo Fibonacci, so sein voller Name, überzeugte im 13. Jahrhundert die Kaufleute vom großen Nutzen der indoarabischen Rechenkunst. Denn mit den negativen Zahlen und der Null ließen sich in den Büchern endlich auch Schulden und Verluste mathematisch sauber aufrechnen. In Florenz allerdings traute man der Sache weiterhin nicht. Per Gesetz wurde 1299 kurzerhand das Verwenden arabischer Zahlen in Verträgen und offiziellen Dokumenten verboten. Ob das Auswirkungen auf Elbflorenz hatte oder immer noch hat, wissen nur der Kämmerer der Stadt und der Wissenschaftsminister, der von der SPD ist und obendrein weiblichen Geschlechts. Ob diese beiden Tatsachen nun ihrerseits Auswirkungen haben – aber ich schweife ab.

Und leider ist die Zeit nun um. Über Nullwachstum, Nullen in der Politik und das Nullsummenspiel, das mein Schreibprogramm mir immer beim Tippen des zweiten „l“ vorschlägt, obwohl ich das den ganzen Beitrag bis hierhin gar nicht brauchen konnte, ein anderes Mal. Auch über aktuelle Tendenzen, die zum Beispiel die Ersetzung der Null durch das Wort „meins“ vermuten lassen („drei – zwei – eins – meins!“ soll dann laut nachgedacht werden.


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