10.01.03

Es gibt keinen Neuschnee.

Gestern Nacht (eigentlich war es schon heute) beim Zappen im Dritten eine Sendung aus alten Tagen gesehen: Psst mit Harald Schmidt. Der war jung, trug eine Matte und scheute sich nicht, Robert Lembkes (17.9.1913 –14.1.1989) "Was bin ich" (1955 – 1988) abzukupfern, nur ohne Hund und Schweinderl. Als prominenter Gast kam Jörg Wontorra und outete sich: Sein erster für die Lübecker Nachrichten geschriebene Artikel sei gar nicht von ihm gewesen, sondern von Kurt Tucholsky. "Es gibt keinen Neuschnee" hatte das Stück geheißen, und Wontora hatte lediglich die Überschrift geändert in "Alles schon mal dagewesen" (!). Sein Erstlingswerk wurde gedruckt.

Es gibt keinen Neuschnee

Wenn du aufwärts gehst und dich hochaufatmend umsiehst, was du doch für ein Kerl bist, der solche Höhen erklimmen kann, du, ganz allein -: dann entdeckst du immer Spuren im Schnee. Es ist schon einer vor dir dagewesen.
Glaube an Gott. Verzweifle an ihm. Verwirf alle Philosophie. Laß dir vom Arzt einen Magenkrebs ansagen und wisse: es sind nur noch vier Jahre, und dann ist es aus. Glaub an eine Frau. Verzweifle an ihr. Führe ein Leben mit zwei Frauen. Stürze dich in die Welt. Zieh dich von ihr zurück . . .
Und alle diese Lebensgefühle hat schon einer vor dir gehabt; so hat schon einer geglaubt, gezweifelt, gelacht, geweint und sich nachdenklich in der Nase gebohrt, genau so. Es ist immer schon einer dagewesen.
Das ändert nichts, ich weiß. Du erlebst es ja zum ersten Mal. Für dich ist es Neuschnee, der da liegt. Es ist aber keiner, und diese Entdeckung ist zuerst sehr schmerzlich. In Polen lebte einmal ein armer Jude, derhatte kein Geld, zu studieren, aber die Mathematik brannte ihm im Gehirn. Er las, was er bekommen konnte, die paar spärlichen Bücher, und er studierte und dachte, dachte für sich weiter. Und erfand eines Tages etwas, er entdeckte es, ein ganz neues System, und er fühlte: ich habe etwas gefunden. Und als er seine kleine Stadt verließ und in die Welt hinauskam, da sah er neue Bücher, und das, was er für sich entdeckt hatte, das gab es bereits: es war die Differentialrechnung. Und da starb er. Die Leute sagen: an der Schwindsucht. Aber er ist nicht an der Schwindsucht gestorben.
Am merkwürdigsten ist das in der Einsamkeit. Daß die Leute im Getümmel ihre Standard-Erlebnisse haben, das willst du ja gern glauben. Aber wenn man so allein ist wie du, wenn man so meditiert, so den Tod einkalkuliert, sich so zurückzieht und so versucht, nach vorn zu sehen -: dann, sollte man meinen, wäre man auf Höhen, die noch keines Menschen Fuß je betreten hat. Und immer sind da Spuren, und immer ist einer dagewesen, und immer ist einer noch höher geklettert als du es je gekonnt hast, noch viel höher.
Das darf dich nicht entmutigen. Klettere, steige, steige. Aber es gibt keine Spitze. Und es gibt keinen Neuschnee.

Kaspar Hauser, Die Weltbühne, 07.04.1931, Nr. 14, S. 515 (c) Rowohlt Verlag

Posted by Ulrich at 10.01.03 10:22 | TrackBack
Comments

Schöne Sache...Nur ich verstehe nicht,was er meint. Neuschnee ist Neuschnee. Ob vorher schon einmal jemand darüber gelaufen ist oder nicht spielt keine Rolle. Wenn der Schnee glatt ist und ich keine Fußspuren sehe, denen ich folgen kann, dann ist es Neuschnee. Selbst wenn früher jemand über den selben Boden lief, dann hat das keine Bedeutung. Denn der Schnee fällt immer wieder und verwischt die Spuren.

Posted by: richie at 04.05.04 01:50

warum musste "richie" schreiben, ist er ähnlich dumm, wie das umfeld, was tucholsky in seinem leben verzweifeln ließ?
der text ist trotz, seiner nun fast altertümlichkeit hoch brisant... empfindsam, sollte jedem zum nachdenken anregen. besonders karriere süchtige. wobei das ansich nicht schlimm ist. bedenkt man das umfeld mit. und geht ab und an ganz tief in sich. das meinte er, bevor er das "gegengift" nahm.

Posted by: uwe at 04.07.04 04:54
Ja bitte?!









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